Endlich mehr Sport: Erzähle deine Geschichte (Teil 5)

„Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen – Erwachsenen, damit sie aufwachen.“ (Jorge Bucay)

Erzähl uns deine Geschichte! Inspiriert durch den tollen Erfolg von Marcus, der durch Sport und Ernährung 40kg in einem Jahr abgenommen hat, ist in unserer Facebook-Gruppe „Endlich mehr Sport“ eine neue Idee geboren. Ich werde im Ausdauerblog dich zu Wort kommen lassen – erzähl uns deine Geschichte!

Heute im fünften Teil erzählt uns Dorothe ihre Geschichte. Eine sehr traurige Geschichte, die dennoch absolut Mut macht! Es ist die Geschichte einer sehr starken Frau und sie hat es verdient, einen exklusiven Platz zu bekommen. Es ist eine Gesichte über Epilepsie

Ich laufe, damit ich nicht untergehe – und für das Lachen…

von Dorothe Simmet

Warum ich laufe ist eher eine „traurige Geschichte„. Nicht etwa der Wunsch abzunehmen ( ich bringe gerade mal 58kg auf die Waage bei einer Größe von 1,72m). Ich brauchte einen Ausgleich zu seelischem Stress, etwas was mir hilft weiter zu funktionieren, nicht einfach die Segel zu streichen, aufzugeben und zusammen zu brechen.

Denn als ich anfing zu laufen war ich sehr nahe daran „unterzugehen“.

Ich bin 37 Jahre alt, habe zwei Kinder, einen Sohn von nunmehr fast 12 Jahren und eine 17 jährige Tochter.

Neben vielen größeren und kleineren Schicksalsschlägen, die denke ich mal jeder irgendwann hinnehmen muss, haben meine Familie und ich eine Odyssee hinter und bzw. befinden uns noch immer in einer.

Meine Tochter hatte mit drei Jahren den ersten Anfall. Einen epileptischen Krampfanfall mit Bewusstseinsverlust. Da ich schon vor dem eigentlichen Anfall erkannte, was passiert konnte ich rechtzeitig richtig reagieren, hatte schon eine Hand am Rücken meines Kindes und konnte sie so abfangen und vorsichtig auf den Boden legen.

Der Anfall dauerte gefühlt eine Ewigkeit, wobei es wohl nur 3-4 Minuten waren. Wir wurden natürlich sofort in eine Kinderklinik eingewiesen, wo man unzählige Untersuchungen machte und uns nach 2 Wochen nach Hause schickte – ohne klare Diagnose.

Man müsse das im Auge behalten und bla bla. Nachdem die Maus dann binnen eines halben Jahres sieben weitere Grand Mal Anfälle hatte, stellte man sie endlich auf Medikamente ein, die leider enorme seelische Nebenwirkungen hatten.

Lach- Schrei-Heul – regelrechte Tobsuchtsanfälle und eine Vierjährige, die total verstört sagte: „Mama ich muss schreien, aber ich will das doch gar nicht.“

Unzählige Klinikaufenthalte, LangzeitEEGs, StressEEGs und SchlafentzugsEEGs später habe ich dann – weil von den Ärtzen nie klare Aussagen kamen – begonnen, zu recherchieren. Als dann wieder ein EEG anstand, bat ich beim Arztgespräch darum mein Kind auf Valproinsäure umzustellen. Das ist für Epileptiker mit ungeklärter Epiform das was bei Grippeinfekten ein Breitbandantibiotikum ist.

Die Ärzte waren skeptisch, gingen aber dennoch, aufgrund der hohen Anfallsrate darauf ein. Damals war meine Tochter 9 Jahre alt. Seither ist sie frei von Grand-Mal-Anfällen, leidet aber nach wie vor an Aussetzern. Das heißt, sie hält plötzlich und unvermittelt in ihrem Tun inne, schaut durch alles hindurch, zeigt keinerlei Reaktion mehr, für 3-4 Minuten und weiß dann meist nicht was sie gerade am Tun war, wenn sie wieder bei sich ist.

Schlimm wurde es richtig als sie in der 7.Klasse Realschule war. ich glaube ich brauche nicht zu erklären, was Mobbing, vor allem bei einem Kind was psychisch eh labil ist anrichten kann. Immer und immer wieder habe ich Rücksprache mit der Schule gesucht, als die Maus an fing sich vom lebensfrohen, langhaarigen Lockenkopf in einen mürrischen, zurückgezogenen „Jungen“ zu verwandeln.

Es hieß immer es gäbe keine Auffälligkeiten. Auch als man begann mich alle 4 Tage anzurufen, weil mein Kind in der Schule über „Kreislaufprobleme“ klagte war nach Aussage der schule nichts auffällig. Als dann das Telefon ging und man mir sagte, man habe meiner Tochter gerade einen Krankenwagen gerufen, sie sei schon wieder umgekippt und warum ich mein Kind krank zur Schule schicken würde, bin ich auf die Barrikaden.

Ich war mit ihr bei verschiedenen Ärzten, ein medizinischer Grund für ihre „Kreislaufprobleme“ war nicht fest zustellen. Ich hatte meine Tochter natürlich auch immer wieder selbst gefragt was los sei, und auch immer „Alles ok“ zur Antwort bekommen. Doch nach der Aktion habe ich das nicht mehr akzeptiert und sie zur Rede gestellt.

Heraus kam, sie wurde gemobbt. Nicht von ein, zwei Kindern sondern von fast ihrer gesamten Klasse und das massiv. Leider wollte die Schule das nicht wahr haben, unterstellte mir sogar mein Kind unter Druck zu setzten und womöglich zu misshandeln.

Als sie nicht ganz vierzehn war kam ich dann zufällig ins Bad, als sie aus der Badewanne stieg. Ich kann meine Verstörung, Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit nicht in Worte fassen, die ich fühlte als ich sah, dass mein Kind sich selbst „verstümmelt“ hatte. An Oberschenkeln, Armen und Bauch war kaum ein Fleckchen heile Haut, eigentlich bestand das alles nur noch aus Narben und Kruste.

Selbstredend bin ich mit meinem Kind sofort zum Arzt, habe Hilfe gesucht, habe die Schule nochmal angesprochen, allerdings ohne Erfolg. Hilfe war Fehlanzeige, lediglich Steine legte man mir massenweise in den Weg. Meine Tochter war dann auch lange in psychologischer Behandlung. Doch auch da suchte man den Grund für ihr Verhalten wohl mehr bei meinem Mann und mir, als bei anderen Dingen. Erst als wir zur Behandlung der Epilepsie, altersbedingt von der Kinderklinik zu einem Neurologen/Psychologen wechselten, erfuhr ich, dass diese Depressionen, Zwangsstörungen und auch die Autoagressivität Teil der Epilepsie sind und nur teilweise durch das Mobbing in der Schule verstärkt wurden.

Klar ging das alles nicht an der Familie vorbei, mein Sohn ( als Kleinkind schwer krank und deshalb entwicklungsverzögert) litt enorm unter der Situation, was ihn immer weiter zurück warf. Mein Mann, der unter einem schweren Kindheitstrauma leidet und sich eh sehr schwer tut Gefühle auszudrücken war total überfordert und hat mehr oder minder dicht gemacht. Mein Umfeld hat mich in der Regel nicht wirklich verstanden. Ich war irgendwann einfach am Ende und als dann mal wieder alles zusammen kam, ich nur noch ein Häufchen Elend war und mit meinem Sohn zum HNO Atzt musste, weil er mal wieder eine Bronchitis mit hohem Fieber hatte bin ich dort regelrecht zusammen gebrochen.

Der Arzt fragte was sei, als ich plötzlich zu weinen begonnen hatte, ohne ersichtlichen Grund, nahm sich viel Zeit und hörte mir zu. Bedingt wusste er vorher schon was los ist, da ich ihn aufgrund von Untersuchungen bei meiner Tochter über die Autoagressivität und alles in Kenntnis setzten musste. Er war der Auslöser!

Wegen ihm habe ich im Grunde genommen begonnen zu laufen. Er hat mich in den Arm genommen, gesagt dass ich mega stark sei, aber man halt schlicht nicht immer nur an andere denken kann, sondern aufpassen muss sich selbst nicht zu verlieren.

Er sagte, ich solle etwas für mich tun, regelmässig und nur für mich allein, wo ich den Kopf mal frei bekommen kann. Ich habe lange überlegt wie ich diesen Rat umsetzen könnte und mir sehr schwer damit getan. Doch als ich dann Urlaub hatte, machte es klick.

Ganz spontan bin ich ins Sportgeschäft, habe mir Laufschuhe gekauft und bin losgelaufen. Zu Anfang eigentlich eher ohne Plan und Sinn – laufen bis der Kopf leer war – egal ob ungesund oder nicht. Dann bin ich über die Facebook-Gruppe „Endlich mehr Sport“ gestolpert, wurde dort total lieb aufgenommen und habe versucht nach Torstens Einsteigerplan zu laufen. Ganz funktionierte das nicht, laufen auf Zeit war nicht meines, ich habe das dann nach Gefühl gemacht mehr oder minder. Aus sinnfrei vor mir selbst und meinem „Chaos“ wegrennen wurde dann gezieltes Laufen. Dreimal pro Woche erst 5 km, mittlerweile 10 km.

Klar, meine Situation ist und bleibt schwierig, aber jetzt habe ich wieder Kraft, habe einen Weg gefunden mit dem Stress umzugehen, statt einfach daran kaputt zu gehen. Ich möchte das Laufen nie wieder missen! Mitunter deshalb kommt bald, wenn ich mir über den Hintergrund klar bin, ein Spruch auf meine rechte Wade :

„I don´t run because I love the feeling of runnig. I run because it makes me love the feeling of living.“

Und mittlerweile laufe ich nicht mehr rein zum Stressabbau, sondern weil ich gemerkt habe wie gut es mir allgemein tut, mein ganzer Gesundheitszustand hat sich sehr verbessert und ich fühle mich einfach gut.

Zudem ist meine Tochter mittlerweile 17 Jahre alt, auf einem echt guten Weg, auf einer neuen Schule (nach super Realschulabschluss jetzt 10.Klasse Gymnasium) wo sie sehr gut aufgenommen wurde von der Klassengemeinschaft und auch die Kommunikation zwischen Schule und Eltern passt.

Das Laufen hat mir geholfen mein seelisches Gleichgewicht wieder zu finden, ein Stück weit auch mich selbst wieder zu finden, denn teilweise hatte ich nur noch andere im Blick und mich total hinten an aus den Augen verloren.

Wer sich selbst verliert, verliert das Wichtigste im Leben, das Lachen. Heute kann ich wieder lachen, laut, freudig und vor allem von ganzem Herzen!!!

Nachfolgend findet sich eine Geschichte, mit der ich versucht habe vieles zu verarbeiten, und die ich meiner Tochter 2011 zum Geburtstag geschenkt habe.

Diese Geschichte wurde von Thomas Finn überarbeitet und Korrektur gelesen. Nochmals unseren herzlichsten Dank dafür.
 

Das Mädchen und der schwarze Mann

Jenny ist mit ihren elf Jahren ein recht reifes Mädchen. Sie hat langes, dunkelbraunes Haar, das in Locken um ihre Schultern fällt, und ist schmal und recht groß, was sie etwas zerbrechlich wirken lässt.
Das Mädchen lacht gerne und viel, sie ist aufgeschlossen, wissbegierig, manchmal etwas zu naseweis, aber doch immer freundlich und verfügt über einen ausgesprochen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

Sie hat die bewundernswerte Eigenschaft, selbst an den Menschen, die sie immer wieder ärgern und hänseln noch etwas Gutes finden zu können.

Die Lebensfreude die dieses Mädchen versprüht, welches gerade an der Schwelle zwischen Kind sein und Erwachsen werden steht, ist erstaunlich, wenn man bedenkt mit welchem Dämon sie immer und immer wieder zu kämpfen hat.
 
Nein, nicht Dämonen im Sinne von bösen Geistern oder fiesen Monstern, wie die meisten Kinder. Weit schlimmer. Denn schon als Jenny noch ganz klein war, hat sich der schwarze Mann in ihr Leben geschlichen.

Ganz ohne zu fragen, ob seine Anwesenheit erwünscht ist, hat er sich einfach an die Fersen des Mädchens geheftet und folgt ihr seitdem auf Schritt und Tritt.

Immer dann, wenn er es schafft aus dem Schatten hervorzutreten und sich gewaltsam in die Welt des Mädchens zu drängen, verscheucht er alles Licht aus dieser Welt. Er verschlingt es gierig und auf einen Schlag. Lediglich eine leichte Vorahnung, ähnlich einem kalten Windhauch, warnt das Kind vor der Dunkelheit, mit der der schwarze Mann es einhüllt.
Und diese Dunkelheit ist mächtig. Sie nimmt Jenny jede Möglichkeit, etwas gegen den schwarzen Mann zu tun. Nicht einmal laut schreien kann sie, und auch nicht leise weinen.
Der schwarze Mann drückt sie einfach nieder und bemächtigt sich all ihrer Kräfte.
Wenn der schwarze Mann das Licht aus Jenny`s Welt verdrängt hat, fällt sie und nimmt nichts mehr wahr. Ihr Körper versteift sich und die Pupillen ihrer geweiteten Augen wandern nach oben, bis nur noch das Weiße ihrer Augen zu sehen ist. Das Mädchen nimmt nicht wahr, wie ihr der Kopf langsam in den Nacken sackt. Sie nimmt auch nicht wahr, wie sich ihr Rücken unnatürlich krümmt. Und sie spürt auch den harten Aufprall auf den Boden nicht, wenn sie fällt. Auch die heftigen Zuckungen, die ihren Körper immer und immer wieder durchlaufen, sind dem Mädchen nicht bewusst.

Ja, selbst wenn der schwarze Mann wieder einmal ganz schlechte Laune hat und sie zwingt, ihren Kopf immer und immer wieder zu heben, nur um ihn dann mit aller Kraft auf den Boden zu schlagen, ist sie von Dunkelheit umfangen.

Doch irgendwann, aus welchem Grund auch immer, zieht sich der schwarze Mann wieder in den Schatten zurück. Und mit diesem Rückzug erstrahlt allmählich auch das Licht wieder.
 
Es dauert oft sehr lange, bis der schwarze Mann verschwunden ist und das Licht das Mädchen behutsam und vorsichtig weckt. Fast so, als hätte es Angst ihm weh zu tun.

Ganz verschwommen ist dann die Welt, die Jenny umgibt. Das Licht reicht dann gerade noch so weit, dass sie ihre unmittelbare Umgebung erkennen kann. Oft weiß sie im ersten Moment gar nicht so genau, wo sie sich gerade befindet. Zu unklar sind die Konturen, zu entfernt klingen die Geräusche – wie durch Watte nimmt sie ihre Welt wahr.

Alles um sie herum wirkt dann bedrohlich und fremd und ihr ganzer Körper tut weh. Ihre Beine fühlen sich an, als wäre sie mindestens einhundert Kilometer gelaufen und ihre Arme schmerzen, als hätte sie stundenlang einen Medizinball empor geworfen. Im Kopf des Mädchens rumort es. Der schwarze Mann hat all ihre Gedanken wild durcheinander geworfen und sie braucht lange, um dieses heillose Durcheinander wieder halbwegs zu ordnen.
 
Viel länger, als der Besuch des schwarzen Mannes eigentlich gedauert hat, braucht es, bis das Mädchen die Stimme wahrnimmt, die wiederholt ihren Namen ruft. Erst ganz leise und dann immer lauter.

Die Stimme überschlägt sich mehrfach, bis das Mädchen endlich die Augen aufschlägt und den Kopf hebt. Ihr ist dann übel, und alles dreht sich, als wäre ihre Welt plötzlich ein Brummkreisel.

Jenny bemerkt zwar, dass da jemand ist, der sich um sie kümmert, doch sie erkennt nicht wer es ist. Manchmal hat der schwarze Mann so üble Laune, dass er sich sehr lange Zeit lässt, um wieder im Schatten zu verschwinden. Häufig schläft Jenny dann schon tief und fest.
 
Es gab eine Zeit, da schaffte der schwarze Mann den Weg aus dem Schatten sehr oft, doch mittlerweile gelingt es Jenny immer häufiger, ihn zurückzudrängen. Jenny kennt inzwischen Wege, mit denen sie dem schwarzen Mann das Leben schwer machen kann. Sie hat die Möglichkeit, die Schutzmauer zwischen sich und ihm höher und breiter zu bauen. Dann ist sie es, die die Welt des schwarzen Mannes farblos und dunkel sein lässt.
 
Doch der Preis dafür ist hoch: Denn Jenny muss auf einige Dinge verzichten, die andere Kinder ihres Alters als selbstverständlich erachten. Jenny weiß, sie wird noch viele Jahre und mit viel Disziplin an der Schutzmauer arbeiten müssen – vielleicht sogar ihr gesamtes Leben lang. Denn der schwarze Mann wird immer da sein. Und er wird auch weiterhin nichts unversucht lassen, um ihre Mauern zu überwinden. Doch Jenny weiß das, sie behält ihn im Auge und unterschätzt ihn nicht. Und dieser Mut, diese Ausdauer und diese Kraft, mit denen sie dem dunklen Schatten schon so lange trotzt, zeugen von einer inneren Größe, die ihrer elf Lebensjahre spotten und jeden, wirklich jeden mit Stolz und Bewunderung erfüllen sollten, der auch nur annährend ermessen kann, welch ein Kampf Jenny austrägt. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat.
 
Manch ein Erwachsener könnte sich von diesem, nicht ganz zwölf Jahre alten Mädchen eine fette Scheibe abschneiden. Und ich möchte voller Stolz sagen, ich bin froh eben dieses Mädchen kennen zu dürfen.
Denn diese Geschichte ist keine Fiktion, keine Erfindung eines wirren Geistes, sondern Realität.
Das nicht mehr ganz so kleine Mädchen, Jenny-Ann ist meine Tochter. Und ich bin unsagbar stolz auf sie.
Wie oft hat sie mich getröstet und mir Mut gemacht, obwohl doch ich, als ihre Mutter hätte stark sein und sie auffangen müssen.

Wie oft fühlte ich mich wie gelähmt und konnte nur hilflos zusehen, wenn der schwarze Mann seine gierigen, schmierigen Griffel nach ihr ausstreckte.

Nicht nur das Mädchen ist real, auch der schwarze Mann. Und auch er hat einen Namen. Epilepsie!
 
Mit knapp sechs Monaten hatte meine süße Maus ihren ersten Krampfanfall, der jedoch damals nicht als solcher erkannt wurde. Mit drei Jahren hatte sie den ersten, sogenannten Grand-Mal-Anfall. Einhergehend mit Bewusstseinsverlust und tonisch- klonischen Zuckungen.
Dieses Bild hat sich regelrecht in mein Gehirn eingebrannt: Es war Abend, wir hatten Freunde zu Besuch und gemeinsam Essen beim Italiener bestellt. Wir saßen zu fünft im Wohnzimmer. Mein Mann und ich auf dem Sofa, unsere Freunde auf dem Zweisitzer. Jenny stand genau zwischen den beiden Möbelstücken, die über Eck aufgebaut waren und hatte gerade mit einem schelmischen Grinsen Pommes Frites vom Teller ihres Vaters stibitzt. Als eine einzelne, überlange Pommes schief aus ihrem Mundwinkel hing und sie das Gesicht verzog, hielten wir das alle für einen Scherz und lachten.
Doch als Jenny dann anfing seltsam schnarrende Geräusche beim Luftholen zu machen, die Augen nach oben rollte, bis nur noch das Weiße zu sehen war und sie unförmig nach hinten sackte, war sofort klar, das ist kein Spiel sondern bitterer Ernst.
Alles was danach passierte lief, zumindest für mich, wie in Zeitlupe ab.
Ich habe Jenny hochgehoben und auf dem Wohnzimmerfußboden wieder abgelegt. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich meine Freundin relativ ungehalten angeherrscht, sie solle endlich einen Krankenwagen rufen.
Dann habe ich meinen Kopf auf Jennys Brustkorb gelegt, um zu hören ob ihr kleines Herz noch schlägt und mit angefeuchtetem Finger, vor ihrer Nase die Atmung überprüft. Ein Puls war kaum tastbar und ihr Atem ging ganz flach.
Ich kann beim besten Willen nicht sagen, wie lang dieser erste Anfall gedauert hat. Für mich waren es endlos lange Stunden, real dürften es eventuell zwei Minuten gewesen sein.
Als meine Tochter endlich wieder bei Bewusstsein war erkannte sie zunächst ihre Umgebung nicht. Sie schaute mich verwirrt und aus großen, verzweifelten Augen an und fragte mich, was passiert sei. Doch ich konnte ihr keine Antwort geben. Ich war selbst einfach nur verwirrt und verzweifelt.

Die anschließende Fahrt ins Krankenhaus schien nicht enden zu wollen, genauso wenig wie die unzähligen Untersuchungen, Blutentnahmen, Tests, Arztgespräche und schlaflosen Nächte.

Trotz all der Untersuchungen konnte uns niemand genau sagen, was mit unserer Tochter passiert war. Wir wurden heimgeschickt und sollten Jenny im Auge behalten und sie regelmäßig beim Arzt vorstellen.
 
Und dann kamen immer neue Anfälle. Nach dem siebten Grand-Mal-Anfall binnen eines Jahres fiel dann zum ersten Mal der Begriff Epilepsie.
Jenny wurde blind auf ein Medikament eingestellt, welches die Anfallsrate herabsetzen sollte. Die ganze Familie hat wahnsinnig unter den psychischen Nebenwirkungen des Antiepileptikums gelitten. Wir haben damals von Lach- über Wein- und Schreikrämpfen, bis hin zu regelrechten Tobsuchtsanfällen alles mitgemacht.
Doch als zum ersten Mal der Begriff Epilepsie fiel hatte der Feind wenigstens einen Namen. Doch leider ist dies nur der Vorname. Denn Epilepsie gibt es in einer wahren Unmenge an Verlaufsformen.

Erst nach gut zwei Jahren, etlichen weiteren Anfällen, unzähligen Klinikaufenthalten, EEGs, Schlafentzugs-EEGs und weiteren Untersuchungen brachte ein Dauerbelastungs-EEG, welches direkt im Anschluss an einen Schlafentzug gemacht wurde, eine etwas genauere Diagnose. Man konnte den Epilepsietyp näher bestimmen, doch die genaue Form ist bis heute nicht bekannt.

Die Bezeichnung „der schwarze Mann“ kommt übrigens nicht von ungefähr. So nannte Jenny die Anfälle. Denn sie nimmt diese nicht als solche wahr, sondern fällt sozusagen in ein schwarzes Loch.

Wenn sie nach einem Krampfanfall das Bewusstsein wiedererlangt, hat sie an das eigentliche Geschehen keine Erinnerung. Sie weiß dann nur, dass etwas vorgefallen ist und beschreibt dieses etwas als den schwarzen Mann.

Bevor Jenny auf die entsprechenden Medikamente, in einer ausreichenden Dosis eingestellt war, musste sie auf sehr viele Dinge verzichten, die andere Kinder in ihrem Alter tun konnten.
Sie konnte nicht ohne Aufsichtsperson auf den Schulhof oder auf einem Spielplatz toben gehen. Sie konnte nicht in den Schwimmkurs oder den Turnverein, weil die Leute zu viel Angst hatten, sie könnte einen Anfall bekommen und damit die anderen Kinder erschrecken.
Sie wurde wegen ihrer Einschränkungen massiv gehänselt und ausgegrenzt. Oftmals nicht einmal von den Kindern selbst, sondern von einigen sehr ignoranten und ungebildeten Eltern.
Ich musste sogar erfahren, dass es Menschen gibt, die behaupten Epilepsie wäre ansteckend und alle Epileptiker wären gestörte, aggressive Gewalttäter.

Allein über die Begegnungen mit solchen Menschen könnte ich mittlerweile ein ganzes Buch schreiben. Doch selbst davon hat sich mein tapferes Mädchen nicht unterkriegen lassen. Im Gegenteil, sie hat hocherhobenen Hauptes gesagt: „Ich bin nicht dumm, ich bin nicht böse, ich bin nicht schlechter als die anderen. Ich bin halt nur ein kleines Bisschen anders als die.“

Jenny hat nie wirklich mit ihrem Schicksal gehadert und alles mit Bravour ertragen, wobei ich selbst an der Krankheit fast zerbrochen wäre. Nicht ich habe meiner Tochter durch diese schwere Zeit geholfen, sondern sie mir. Sie hat mich bei den Händen gefasst und gesagt: „Mama, das schaffen wir schon!“

Ich habe in den letzten Jahren sehr viel von diesem lebensfrohen, bewundernswert mutigen Menschenkind gelernt und bin verdammt stolz darauf, so eine tapfere, starke Tochter zu haben.

Den restlichen Weg, und er wird sicher noch lange und zeitweise sehr zermürbend sein, werden wir zusammen gehen. Alle. Meine Tochter, mein Mann, ich und Tobias, Jennys mittlerweile sechs Jahre alter Bruder.
Dies ist also nicht einfach eine Geschichte. Dies ist unsere Geschichte. Vor allem ist es meine Art, meiner Tochter zu sagen, wie toll sie ist und vor allem, wie unsagbar lieb ich sie habe!
 
Jenny-Ann – ich liebe dich!!!

Warum wolltest/willst du mehr Sport machen? Was waren/sind deine Beweggründe? Hast du dein Ziel erreicht und welche Hindernisse lagen auf dem Weg? Was hat dir geholfen, was hat dich inspiriert? Erzähle deine Geschichte!

Wenn auch du an der Aktion teilnehmen möchtest, dann sende mir eine E-Mail mit deiner Geschichte und mindestens einem Foto an topre@ausdauerblog.de

Endlich mehr Sport – erzähle deine Geschichte

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Über den Autor: Torsten Pretzsch

Ich bin 2008 von der Couch aufgestanden, um ein sportlicheres Leben zu führen. Begonnen mit einer Laufrunde von 15 Minuten, lief ich Jahre später Marathon und absolvierte einen Ironman.

Mit dem ausdauerblog möchte ich meine Vision verwirklichen, über 50.000 Menschen dauerhaft zum Laufen zu bringen.

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